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Channel: Essen – Mein Freund, der Baum
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Essen ist keine Stadt, sondern eine Gebietskörperschaft

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Ein Blick über den Strategieprozess Essen.2030 hinweg

Die Stadtverwaltung Essen hat im Mai diesen Jahres unter dem Label „Essen.2030″ einen Prozess zur strategischen Ausrichtung der Stadt gestartet. Ein Kernstück in diesem Prozess sollte die Bürgerbeteiligung bilden. Im September und Oktober veranstaltete die Stadtverwaltung dazu einen Online-Dialog, ein Dialog-Café in der VHS und schickte einen Dialog-Bus auf die Marktplätze der Essener Stadtteile.

Die Teilnehmer des Dialogcafés bei der Präsentation der Ergebnisse aus den Arbeitsgruppen

Die Teilnehmer des Essen.2030-Dialogcafés bei der Präsentation der Ergebnisse aus den Arbeitsgruppen (Photo: Roger Weil – Lizenz: CC BY-SA 3.0)

Obwohl die Möglichkeiten der Bürgerbeteiligung am Projekt Essen.2030 durch das Stadtmarketing intensiv beworben wurde, war der Beteiligungsgrad der Bürger erschütternd niedrig. Am Online-Dialog beteiligten sich gerade einmal 200 von 570.000 Essenern, der Bürger-Dialog wurde von dienstverpflichteten Stadtbeschäftigten und anderweitigen Planungsprofis zahlenmäßig dominiert (nur fünf Normalbürger nahmen daran teil) und an dem Dialog-Bus in den Stadtteilen ging die übergroße Mehrheit der Bürger achtlos vorbei.

Politik anders herum also in Essen? Gilt es sonst allerorten zu klagen über bornierte Politiker, die über die Köpfe der Bürger hinweg regieren, so scheint es in Essen ganz anders zu sein. Die Stadtpolitik schaut über den Tellerrand der Wahlperiode hinaus, geht Stadtentwicklung strategisch an, was an sich schon gar nicht stark genug gelobt werden kann, und fragt dazu die Bürger, wie diese in zwanzig Jahren ihre Stadt haben möchten. – Und die Bürger? Sie antworten nicht. Der Strategieprozess Essen.2030 interessiert sie nicht die Bohne.

Da liegt es nahe, die Bürger zu beschimpfen, dafür, dass sie so träge sind. Aber sind die Bürger wirklich so träge? Das sonstige Engagement der Bürger, das sich in den vielfältigen gemeinnützigen und auch direkt politischen Initiativen in den Stadtteilen zeigt, spricht da deutlich dagegen. Der Architekt Axel Koschany, einer der fünf offiziellen Botschafter von Essen.2030, erklärt dazu in der WAZ vom 05.10.12: „Der Essener ist eben in erster Linie ein Stadtteilmensch.“ Der Stadtplaner und SPD-Politiker Gerd Mahler führt aus: „Ich wundere mich nicht, dass sich so wenige Menschen an dem Prozess 2030 beteiligen. Wer sich in der politischen Sphäre Essens, aber auch anderer Städte des Ruhrgebiets auskennt, weiß, dass die meisten Bürger in ihren Stadtteilen leben und genau wissen, was dort zu verbessern wäre. Für die Stadt als Ganzes gibt es hingegen kaum Interesse“ (zitiert nach WAZ vom 09.10.12).

Das, was die Herren Koschany und Mahler beschreiben, liegt an den Stadtbildungsprozessen im Ruhrgebiet. Hier sind die bestehenden Großstädte nicht organisch gewachsen, sondern wurden im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts und dann noch einmal in den 1970er Jahren von Verwaltungsbeamten geschaffen – in Form von oft willkürlichen Zusammenlegungen und Grenzziehungen. Die Bevölkerungen wurden bei diesen Stadtbildungen niemals beteiligt. Und so kommt es in vielen Orten des Ruhrgebiets bis heute zu keiner Identifikation mit den künstlich geschaffenen Großstädten. Man siehe aktuell nur die erfolgreichen Bürgerproteste gegen die geplanten Benennungen der Bahnhaltepunkte „Bochum-Wattenscheid“ und „Essen-Kettwig“.

Es soll hier aber keinem politischen Denken in den engen Grenzen des eigenen Wohnquartiers das Wort geredet werden. Denn die ehemaligen Dörfer zwischen Ruhr und Emscher sind natürlich durch das massive hundertjährige Bevölkerungswachstum (ca. 1860-1960) längst zu einem urbanen Stadtraum zusammengewachsen. Schaut man eine Luftaufnahme des Ruhrgebiets an, dann existiert dort kein Essen, kein Bochum, kein Gelsenkichen, kein Herne, sondern nur eine Stadt. Und diese ganz große Stadt, die Ruhrstadt, ist es, die der strategischen politischen Planung bedarf, die einer Steigerung der Identifikation durch ihre Bevölkerung bedarf, die zu einem Sehnsuchtsort werden muss.

Die Ruhrstadt wird von vielen Menschen bereits gelebt. Ein typischer Ruhrstadtmensch sieht so aus: er wohnt in Herne, arbeitet in Gelsenkirchen, kauft in Essen ein, geht nach Oberhausen ins Theater, geht nach Dortmund zum Fußball, feiert in Bochum und fühlt sich als Wanner. Was wir daher brauchen, ist eine Politik für diese Ruhrstädter und keine Einhegung der politischen Visionen in die Grenzen einer beliebigen Gebietskörperschaft.

Nach Ruhr.2010 ein Essen.2030, das wäre wirklich ein Rückschritt. Die Schaffung einer Ruhrstadt bis 2030, das könnte eine Vision sein, für deren Verwirklichung alle vorhandenen Planungskapazitäten herangezogenen werden müssten. Die geringe Identifikation der Menschen an Ruhr und Emscher mit den bestehenden Städten sollte gerade als Chance begriffen werden, das notwendige Projekt Ruhrstadt konsequenter als bisher in Angriff zu nehmen.

Vergesst Essen.2030! Auf zu Ruhr.2030!


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